Tragisches Kino-Drama aus Frankreich

Dass Frankreichs Kino nur schwer Zugang zum Mainstream-Publikum findet, weiß man nicht erst seit Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro mit „Delicatessen“ und „Stadt der verlorenen Kinder“ den französisch-typischen Surrealismus auf Film bannten.

 

Auch Gelegenheits-Hollywood-Regisseur Luc Besson präsentierte 1985 mit dem Neo-Noir-Krimi „Subway“, dass das französische Kino an sich eine grenzenüberschreitende Bereicherung eines jeden ernsthaften Cineasten ist.

 

Im neuen Jahrtausend spaltete sich jedoch das französische Kino in zwei Hälften. Auf der einen Seite entdeckten sie den Horrorfilm für sich, welcher mit Werken wie „High Tension“ und „Inside“ dem US-Horrorfilm im wahrsten Sinne des Wortes offenbarten, wie man richtig „die Sau rauslässt“. Auf der anderen Seite findet sich die sensible, aber gleichzeitig auch wunderschöne Kehrseite wider; der Liebesfilm, welcher in der heutigen Zeit jedoch (leider) vom jungen Publikum mit großer Distanz betrachtet wird.

 

 

Allerdings darf und sollte man auf keinem Fall den US-Liebesfilm mit dem europäisch-französischen Liebesfilm vergleichen! Das sind zwei komplett verschiedene Welten, die allerhöchstens den Begriff gemeinsam haben. 

„Water Lilies“ von Céline Sciamma schildert die Geschichte dreier junger Mädchen, welche alle mit ihren kleinen und größeren Problemen zu kämpfen haben. Marie (erschreckend nüchtern und unglaublich überzeugend dargestellt von Pauline Acquart) lebt mit ihrer besten Freundin Anne (Louise Blachère) in einem französischen Vorort eher introvertiert und zurückhaltend. Die beiden scheinen keine Geheimnisse voneinander zu habe, sie vertrauen sich alles an. Bis Floriane (Adele Haenel) in ihr Leben eintritt. Sie ist der Star der Jungs – ein modernes Sexsymbol, welche ihre körperliche (Früh-)Reife perfekt einzusetzen weiß. Allerdings, so erfährt man im Laufe des Films, hat noch kein Junge es geschafft, sie zu entjungfernen. Eine Tatsache, welche Floriane einerseits sehr bedauert und ein Stück weit auch fertig macht, andererseits fühlt sie sich dadurch wohler und sicherer in ihrem Handeln und Tun. 
 
Alles beginnt mit einer Vorführung im städtischen Hallenbad der Synchronschwimmerinnen, denen Floriane auch angehört. Marie verfolgt die imposanten Aktionen der Schwimmerinnen, scheint fasziniert und beeindruckt, wobei man als Zuschauer anfangs noch nicht ahnen kann, dass diese fast schon anhimmelnde Faszination vielleicht gar nicht dem Sport an sich gegolten hat. Sie will unbedingt bei einem Training dabei sein und zusehen, wie es da von statten geht. Marie, die eher schüchtern, zurückhaltend und emotionslos erscheint, wagt den Schritt und spricht die Anführerin an – Floriane, eine selbstbewusste, angesehene blonde, junge Frau. Sie darf allerdings nur für eine Gegenleistung das Training besichtigen – eine Gegenleistung in Form eines Alibis. Um sich mit ihrem „Freund“ heimlich zu treffen, erzählt sie ihrer Mutter, sie gehe mit ihrer neuen „Freundin“ Marie abends etwas raus – die nun als Lügenassistentin quasi dienen soll. Im Laufe des Films entsteht eine Art Beziehung zwischen Floriane und Marie, die immer wieder zwischen gnadenlose Ausnutzung und echter Freundschaft hin und her pendelt. Die verwirrte und einschüchternde Marie kann mit der Situation nicht immer umgehen, willigt dennoch immer wieder ein, egal was Floriane auch verlangt. Diese Beziehung geht dann sogar so weit, dass Floriane Marie irgendwann zu sich einlädt. Als Zuschauer hat man immer den Verdacht, Floriane würde etwas für Marie empfinden – und so denkt wahrscheinlich auch Marie, weil sie emotional immer verwirrter wird. Sie weiß nicht mehr, was real und was Spiel ist. Am liebsten würde sie Floriane für sich ganz alleine haben, vernachlässigt dafür sogar ihre beste Freundin Anne, bezeichnet sie als „Klotz am Bein“. Sie geht sogar so weit, den Müll von Floriane zu durchwühlen nur um an ihre weggeworfenen Sachen zu schnuppern – oder einen von ihr angebissenen Apfel zu verzehren. Man könnte meinen, dass ist wahre Liebe. Doch die Erwiderung bleibt stets aus. Sie gelangen zwar irgendwann zu einem Punkt, an dem Floriane Marie fragt, ob sie sie nicht Entjungernen möchte. Marie ist anfangs (verständlicherweise) geschockt, willigt später dennoch ein, als sie Floriane wieder mit einem anderen Jungen küssen gesehen hat. Eifersucht pur, das steht ihr wortwörtlich auf dem Gesicht geschrieben. 

 
Regisseurin Céline Sciamma erzählt die mitfühlende „Liebesgeschichte“ nüchtern und direkt. Der Fokus liegt hier ganz klar auf den wunderbar agierenden Schauspielerinnen, die sich nie gegenseitig an die Wand spielen. Präsentiert wird das Ganze in schlichten, aber gleichzeitig auch wunderschön-neutralen Bildern, welche die Ernsthaftigkeit der Thematik zusätzlich unterstreichen. Sciamma will nicht mahnen, nicht provozieren, nicht pädagogisch den Finger erheben – sie erzählt den Film stringend ohne jegliche Partei zu ergreifen. Das Thema Homosexualität im Jugendalter ist sicherlich keine Rarität. Besonders in jungen Jahren haben Mädchen Schwierigkeiten, ihre Sexualität zu akzeptieren oder gar zu erkennen – um dann zu entscheiden, welchem Geschlecht man sich schlussendlich hingezogen fühlt. Es ist keine Seltenheit, dass sich Mädchen in ihre beste Freundin verlieben. Das Thema Jungs wird jedoch weiterhin angesprochen, selbst wenn dann mehrmals Eifersucht die Zügel in die Hand nimmt. Bei Marie ist es jedoch etwas anders. Bisher nur von ihrer besten Freundin Anne akzeptiert, versucht sie, sich einen Platz als einzigartiges Individuum zu erkämpfen. Floriane scheint anfangs eine Rivalin, doch sieht Marie sie nicht als solche. Sie ist viel mehr Vorbildfunktion, flankierender Halt und Abschaum auf einmal. Die langsam sich entwickelte Beziehung zwischen den beiden ist glaubwürdig und nachvollziehend erzählt – was mit Sicherheit ein großer Verdienst der beiden Jungschauspielerinnen ist. Vor allem Pauline Acquart nimmt man die Rolle der vorsichtig agierenden Marie in jeder Sekunde ab. Die Idee war, die Gratwanderung und die Entwicklung der Mädchen so realistisch wie möglich zu machen. Und das ist vollends gelungen. Anders als der wunderschön-märchenhafte Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ verzichtet man hier bewusst auf jeglichen Surrealismus – auch ist die Farbkomposition eher monoton anstatt prächtig ausgefallen. Was kein Negativpunkt ist! Problematisch für Mainstreamler könnte die etwas sperrige Erzählweise werden, da eben jene  keinen flüssigen Lauf hat und die einzelnen Szenen eher mit schweigsamen und schlichten Momenten arbeitet, anstatt alles an die große Glocke zu hängen. Doch genau diese karge Inszenierung macht die alltäglichen und stets aktuellen Probleme der jungen Leute emotional nachvollziehbar um in seiner Einzigartigkeit stets die Neutralität zu bewahren – und um so die Schema F Konstellation zu vermeiden. 

 „Water Lilies“ schildert die Entwicklung eines jungen Mädchens, das lernen muss, mit ihren Gefühlen klar zu kommen. Ausgestoßen oder nicht akzeptiert zu werden ist sicherlich kein schönes Gefühl. Allerdings sollte man als Opfer jener gesellschaftlicher Gruppierung nicht sich deren Methoden als Vorbild nehmen, um mit den gleichen Mitteln anderen dasselbe Leid zuzufügen – wie es Marie bei Anne im McDonald’s getan hatte. Als Zuschauer wird man sehr schnell in die Geschehnisse involviert, da es Regisseurin Sciamma schon in den ersten Minuten schafft, das Publikum für sich zu gewinnen. Und dafür musste sie gar nicht so viel tun. Was den Film so auszeichnet ist die subtile Herangehensweise sowie der stets ruhige und unsentimentale Grundton, der jeder Herzschmerz-Tragödie aus dem Weg geht. Allerdings kann der Film in gewisser weise auch verstören bzw. sehr beunruhigend wirken. Zu einem gehört da selbstredend die Szene, in der Marie Anne als fettleibig und nervtötend betitelt. Diese kurze Sequenz entwickelt eine so starke Atmosphäre, dass man sich als Zuschauer mehrmals sagen muss – Das ist nur ein Film! So einfach ist es nun aber auch nicht, da der Film sich mit keiner utopischen Fiktion zufrieden gibt, sondern im Grunde nur mit der Kamera fest hält, wie vorurteilhaft, klischeehaft und untolerant die heutige Jugend mit einander umgeht – und das es immer schwierig wird, Liebe einzugestehen oder zuzugeben. Anders als „Die fabelhafte Welt der Amélie“, welcher die Probleme Liebe und Vereinsamung farbenprächtig, lebensbejahend und sehr optimistisch schildert, zeigt „Water Lilies“ nur das, was man als Außenstehender beobachten kann. Wie sich Marie nun mit all ihren Schwierigkeiten fühlt, was sie denkt und wie sie handeln wird, darauf geht der Film in keinster Sekunde ein. Personalisierte Emotionen als auch leicht verfälschte Wahrheiten lässt der Film bewusst außen vor. Céline Sciamma zeigt nur das, was es zu zeigen gibt – und das ungeschönt und so neutral, wie es filmisch realisierbar ist. Und dieser Unterschied hebt diesen Film von den gängigen Liebesfilmen ab. 
„Water Lilies“ ist zwar nicht besser als „Die fabelhafte Welt der Amélie“, aber direkter, trotz der Jungschauspielerinnen erwachsener und neutraler, was dazu führt, dass man als Zuschauer weder Mitleid noch Hass der jeweiligen Charakteren entwickelt. Und genau aus diesem Grund, das der Film durchweg die Neutralität beibehält, ließ mich dazuführen, den Film für meine Verhältnisse die volle Punktzahl zu geben. Denn die Charaktere sind kongenial in Szene gesetzt, das Spiel authentisch und (leider) sehr realitätsnah, die sparsam eingesetzte Musik ist weder manipulativ noch nervig. Im Grunde ist der Film ein tragisches Liebesmärchen – ohne diesen märchenhaften Aspekt. Er ist kalt, rau, karg, intensiv, beunruhigend. Andererseits auf seine ganz spezifische Art auch wunderbar gefilmt und zum Weinen schön inszeniert, denn ein Happy-End gibt es nicht. So etwas gibt es in der Realität auch nicht. Am Ende steht Marie wieder alleine da. Nun, nicht ganz alleine. Und als der Abspann beginnt, möchte man als Zuschauer am Liebsten die kleine, niedliche und schüchterne Marie in die Arme nehmen und leise in ihr Ohr flüstern: „Es wird alles wieder gut!“. Selbst wenn man darauf keine Garantie geben kann.

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